Diese Frage ist leider nicht abschließend geklärt.
Der European Accessibility Act (EAA) sowie § 1 Abs. 3 BFSG formulieren, dass das Gesetz für Dienstleistungen gilt, die für Verbraucher nach dem 28. Juni 2025 erbracht werden. E-Books werden in der Richtlinie und im Gesetz als Dienstleistung definiert. Versteht man „erbracht werden“ (im Englischen „provided to“...) im Sinne von „angeboten werden“, so müssten die Barrierefreiheitsanforderungen erfüllt werden, auch wenn das E-Book vor dem 28. Juni 2025 erschienen wäre.
Auf der anderen Seite lässt sich sagen, dass E-Books zwar rechtlich als Dienstleistung klassifiziert sind, letztendlich ähneln sie aber – was den Herstellungsprozess angeht – Produkten. Sie werden einmal gesetzt und hergestellt und dann über verschiedene Vertriebsplattformen über Jahre im Markt angeboten, ohne dass es eine erneute Veränderung oder Aktualisierung gibt. Ihr Erscheinungsdatum ist dabei im Impressum ablesbar. Aus diesem Grund sind sie mit anderen Dienstleistungen wie beispielsweise Webseiten nicht vergleichbar, die zum Teil täglich geändert werden.
Gemäß § 1 Abs. 5 BFSG gelten die Barrierefreiheitsanforderungen zudem nicht für den Inhalt von Webseiten und mobilen Anwendungen im Falle von „aufgezeichneten zeitbasierten Medien, die vor dem 28. Juni 2025 veröffentlicht wurden“ sowie nicht für „Dateiformate von Büro-Anwendungen, die vor dem 28. Juni 2025 veröffentlicht wurden“ oder „Inhalte von Webseiten und mobilen Anwendungen, die als Archive gelten, da ihre Inhalte nach dem 28. Juni 2025 weder aktualisiert noch überarbeitet werden“. E-Books sind mit solchen „zeitbasierten Medien“, „Dateiformaten“ und „Archiven“ vergleichbar, weil sie vom Verlag grundsätzlich nach der ersten Veröffentlichung nicht mehr geändert werden. Behörden berufen sich beispielsweise in Bezug auf ältere pdf-Dokumente auf die ähnlich lautende Vorschrift des § 2 Abs. 2 Nr. 2 BITV 2.0.
Die Formulierung „erbracht werden“ lässt sich somit auch so verstehen, dass sie sich nur auf die Neuveröffentlichung von E-Books bezieht, also auf E-Books, die ab dem 28. Juni 2025 neu bzw. vom Verlag in einer aktualisierten Fassung veröffentlicht werden.
Dafür spricht auch Erwägungsgrund 21 des EAA, wonach die Barrierefreiheitsanforderungen so eingeführt werden sollen, dass sie den Wirtschaftsakteuren und den Mitgliedsstaaten möglichst wenig Aufwand verursachen. Die Umwandlung der gesamten Backlist wäre ein Aufwand, der bis zum Jahr 2025 nicht zu leisten wäre. Gerade im Bereich von wissenschaftlichen Titeln und Fachbüchern, in dem die E-Books auch Grafiken und Tabellen enthalten, müsste jedes einzelne E-Book händisch noch einmal neu gesetzt und hergestellt werden.
In Deutschland sind im Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) fast 600.000 E-Books gelistet, die tatsächliche Zahl der lieferbaren E-Books dürfte noch höher sein, da nicht alle Verlage ihre E-Books – anders als gedruckte Bücher – im VLB melden. Die Kosten für die Umwandlung der Backlist in barrierefreie Formate wurden im Barrierefreiheitsgesetz nicht im Punkt „Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft“ berücksichtigt. Auch dies spricht dafür, dass die Backlist nicht erfasst sein soll.
Es gibt jedoch im EAA, im BFSG, in der Gesetzesbegründung und auch in der dazugehörigen Rechtsverordnung keine Klarstellung, die unsere Auffassung bestätigt. Auf europäischer Ebene scheint die Kommission davon auszugehen, dass die Backlist erfasst ist. In Frankreich wurde mit einem Dekret klargestellt, dass für E-Books, die vor dem 28. Juni 2025 erschienen sind, eine Übergangsfrist bis zum 28. Juni 2030 gilt. Dabei bezieht sich Frankreich auf Art. 32 EAA (in Deutschland in § 38 Abs. 1 Satz 2 umgesetzt), wonach vor dem 28. Juni 2025 bestehende Dienstleistungsverträge bis zu ihrem Ablauf, allerdings nicht länger als fünf Jahre ab diesem Datum unverändert fortbestehen.
Verlage sollten daher für sich individuell prüfen, inwiefern es für sie technisch machbar ist, die Backlist (ggf. auch schrittweise und in Abhängigkeit vom Erfolg eines Titels) umzuwandeln und dabei das rechtliche Risiko für sich abschätzen. Sollte eine Umwandlung faktisch nicht möglich sein, so sollte geprüft werden, ob eine Anpassung von Dienstleistungsverträgen möglich ist. Zusätzlich ist zu empfehlen, den Aufwand der Umwandlung zu dokumentieren, um sich ggf. zusätzlich auf die Ausnahme der Unverhältnismäßigkeit zu berufen.