Im Gespräch mit: Ulrich Richter.
Der [ˈnaːxvuːks]blog im Gespräch mit Ulrich Richter, Vertriebsleiter bei Diogenes (Zürich) – über die veränderten Kauf- und Lesegewohnheiten von Leser:innen und warum gerade der Nachwuchs weit über den Tellerrand der Buchbranche hinausblicken sollte.
Erstellt am 06.10.2021
Die Fragen stellte Marie-Theres Stickel.
Lieber Herr Richter, erzählen Sie uns gerne etwas über Ihren eigenen Werdegang in der Literaturbranche – welchen Weg haben Sie damals als junger Mensch eingeschlagen, von welchen beruflichen Stationen können Sie uns berichten?
Ich bin in einer Familie mit vielen Büchern aufgewachsen und war schon sehr früh an allem interessiert, was im heimischen Bücherregal stand. Als Schüler war ich reger Nutzer verschiedener Bibliotheken und in der Oberstufe habe ich dann mein Lieblingsfach Deutsch als Leistungskurs belegt und jede Möglichkeit gesucht, mich in Literaturarbeitsgemeinschaften zu beteiligen. Es waren engagierte Lehrer, die mich ermuntert haben, nach dem Abitur Germanistik und Geschichte in Tübingen zu studieren. Während des Studiums habe ich neben den beiden Hauptfächern noch mehrere Semester Vorlesungen in Linguistik, Rhetorik, Philosophie, Kunstgeschichte und Pädagogik besucht. Es war eine spannende Zeit des Ausprobierens und der Suche, aber die moderne deutsche Literatur stand immer an oberster Stelle.
Zur Finanzierung des Studiums war ich mehrere Semester lang bei einem kleinen Verlag als externer Lektor tätig und im Anschluss an das Staatsexamen konnte ich beim Stuttgarter Klett Verlag im WBS-Kolleg eine Zusatzausbildung in Vertrieb und Marketing absolvieren. Dazu gehörte auch ein Praktikum beim Ravensburger Buchverlag, wo ich sehr viel gelernt habe. Die Ravensburger Verlagskollegen verhalfen mir dann zu einer Festanstellung beim Schweizer Sauerländer Verlag, bei dem ich vier Jahre lang im Vertrieb gearbeitet habe, bis ich als Vertriebsleiter zum AT Verlag kam. Einige Jahre später ergab sich dann eine Möglichkeit, zu meinem Lieblingsverlag zu wechseln. Seit 24 Jahren bin ich nun für den Vertrieb im Diogenes Verlages verantwortlich.
Wer sich heute in der Buchbranche engagiert, sollte weit über den Tellerrand hinausblicken, sich mit wirtschaftlichen, gesellschaftspolitischen und zwischenmenschlichen Fragen beschäftigen. Suchen Sie sich Gesprächspartner:innen auch außerhalb der Branche, stellen Sie unbequeme Fragen, schneiden Sie alte Zöpfe ab. Die Buchbranche benötigt eine Erneuerung und die kann nur mit viel Mut zum Umbau geschehen.
— Ulrich Richter
Wenn Sie mit uns einen Blick zurückwerfen auf Ihre eigenen Anfänge in der Branche damals – wo sehen Sie Veränderungen in der Situation heutiger Berufseinsteiger:innen? Und haben Sie an dieser Stelle einen Rat, den Sie dem Nachwuchs mit auf den Weg geben möchten?
Seit meinem Einstieg in die Verlagswelt haben sich die Möglichkeiten ausgeweitet, den Sprung in einen Verlag zu schaffen. Waren es früher nur gelernte Verlags- und Sortimentsbuchhändler:innen oder Akademiker:innen mit klassischen geisteswissenschaftlichen Abschlüssen, die eine leitende Position in einem Verlag bekamen, so gibt es heute doch viele andere Wege dorthin. Ich denke da zum Beispiel an die Studiengänge der „Buchwissenschaften“ und viele praxisorientierte Ausbildungen, die einen wesentlich besser auf den Beruf vorbereiten, als das früher der Fall war. Auch sind die jungen Menschen heute besser informiert, gut vernetzt und in vielen Fällen umfassender in den Fremdsprachen ausgebildet.
Die Buchbranche wurde schon immer von vielen Frauen geprägt, aber jetzt gibt es vor allem auch in den Verlagen immer mehr Führungspositionen für weibliche Nachwuchskräfte. Da hat sich das Kräfteverhältnis sicher schon verbessert.
Wer sich heute in der Buchbranche engagiert, sollte weit über den Tellerrand hinausblicken, sich mit wirtschaftlichen, gesellschaftspolitischen und zwischenmenschlichen Fragen beschäftigen. Suchen Sie sich Gesprächspartner:innen auch außerhalb der Branche, stellen Sie unbequeme Fragen, schneiden Sie alte Zöpfe ab. Die Buchbranche benötigt eine Erneuerung und die kann nur mit viel Mut zum Umbau geschehen.
Und einen wertvollen Rat, der mich bereits mein ganzes Berufsleben begleitet, möchte ich gerne an Sie weitergeben: Unterscheiden Sie Wichtiges von Dringlichem!
Als Vertriebsleiter von Diogenes arbeiten Sie für einen der größten unabhängigen Publikumsverlage im deutschsprachigen Raum. Welchen Themen- und Aufgabengebieten begegnen Sie in Ihrer täglichen Arbeit? Wie spielt Ihre Abteilung mit den anderen Abteilungen des Verlags zusammen?
Der Markt hat sich in den vergangenen 40 Jahren massiv von einem Verkäufer- zu einem Käufermarkt verändert. Es gibt ein Überangebot an Produkten, eine sich verändernde Kauf- und Lesegewohnheit und neue Medien, die das Zeit- und Finanzbudget in Anspruch nehmen. Ein Verlag muss heute kreativer sein als früher, muss sich viel mehr mit den Wünschen der Käufer:innen, mit den Marktströmungen und mit wirtschaftlichen Fragen auseinandersetzen. Dazu kommen ökologische und juristische Herausforderungen.
Dies alles führt dazu, dass das „Abteilungsdenken“ passé ist. In der täglichen Arbeit müssen die verschiedenen Bereiche, wie Lektorat, Presse, Herstellung, Werbung, Finanzen viel mehr verzahnt miteinander agieren, müssen wendig und anpassungsfähig sein. Von der Planung der Programme bis hin zur Auslieferung, zu den Marketingaktionen und Vertretergesprächen, überall müssen wir heute immer gemeinsam am Ball bleiben. Das macht die Verlagsarbeit so vielseitig und spannend
Wie sieht ein typischer Arbeitstag des Diogenes-Vertriebsleiters aus?
Nur ein kleiner Teil der täglichen Arbeit ist Routine. Ich schaue mir morgens die Absatzzahlen der wichtigsten Titel an, überprüfe die Bestände, lasse mir die Umsätze der wichtigsten Kund:innen anzeigen und bespreche mich mit den Kolleg:innen im Vertrieb, mit den Vertreter:innen und fast täglich auch mit den Auslieferungen.
Daneben gibt es immer viele kleinere und größere Projekte, die parallel laufen. Disposition der Nachauflagen, Sollauflagen für Novitäten festlegen, Erscheinungsmonate mit dem Lektorat besprechen, Kundengespräche führen, logistische Probleme lösen, personelle Dinge besprechen, an Meetings teilnehmen, Prozesse hinterfragen und verbessern und vieles mehr. Also eine Kombination aus Feuerwehrkommandant und Zirkusdirektor (lacht).
In Deutschland verpflichtet das Buchpreisbindungsgesetz alle Branchenteilnehmer:innen, gebundene Ladenpreise einzuhalten. Diogenes hat jedoch seinen Sitz in Zürich – und in der Schweiz gibt es kein staatliches Gesetz, das eine Buchpreisbindung vorschreibt, eine privatrechtliche Vereinbarung der Verlage und Buchhändler fiel im Mai 2007. Können Sie uns etwas darüber berichten, wie sich der Umgang mit der Thematik der Buchpreisbindung in der Schweiz in den letzten Jahren entwickelt hat? Und welchen Einfluss eigentlich das deutsche Buchpreisbindungsgesetz auf Ihre Arbeit bei Diogenes hat?
Die Buchpreisbindung ist eine geniale Erfindung, die hoffentlich noch lange überdauert und die auch in der Schweiz sehr lange gut funktioniert hat.
Leider hat sich in der Schweiz nach der Ablehnung am 11. März 2012 durch das Schweizer Stimmvolk die Buchhandelslandschaft zum Negativen hin verändert. Viele kleinere Buchhandlungen konnten den Wettlauf um die Dumpingpreise nicht durchhalten und mussten schließen. Es entstand ein Verdrängungswettkampf, der die Ketten letztendlich stärker gemacht haben. Die positive Seite ist: viele Buchhandlungen wissen heute genau, wie sie ihre Preise kalkulieren müssen, um zu überleben. Die Kund:innen wissen, dass die Bücher unterschiedliche Preise haben und wer in seiner Quartierbuchhandlung einkauft, wird unter Umständen besser beraten und bezahlt dann eben auch einen etwas höheren Preis.
Aus Verlagssicht hat sich – abgesehen von der drastischen Marktbereinigung – nach dem Ende der Preisbindung in der praktischen Arbeit nicht viel verändert. Wir fakturieren auf der Basis des unverbindlichen Verkaufspreises und nehmen weiterhin Remittenden entgegen, obwohl der Buchhandel die Bücher ja selbst im Preis reduzieren könnte. Hier ist noch viel Entwicklungspotential vorhanden und Phantasie gefragt, um das Hin- und Herschicken der Bücher zu reduzieren.
Das deutsche Buchpreisbindungsgesetz beschäftigt uns bei Diogenes hingegen weitaus stärker, da wir rund 80% des Umsatzes in Deutschland erwirtschaften und wir uns als Produzent mit dem Handel über die Konditionen einigen müssen. Hier ist es uns seit jeher ein großes Anliegen, die Konditionenspreizung so gering wie möglich zu halten, wie es das Preisbindungsgesetz vorschreibt. Das wollen so manche Marktteilnehmer nicht akzeptieren und daraus entstehen dann immer wieder Konflikte, die es zu lösen gilt.
Zum Abschluss würden wir uns über aktuelle Buchtipps für den Nachwuchs freuen. Haben Sie Titel im Kopf, die Sie unseren Leser:innen des [ˈnaːxvuːks]blogs gerne zur Lektüre empfehlen möchten?
Und einen weiteren Literaturtipp, den ich unbedingt noch weitergeben muss, ist Ulrich Bechers, »Die Murmeljagd«, aus dem von mir so sehr geschätzten Schöffling Verlag. „Ein zu Unrecht vergessenes Meisterwerk der deutschsprachigen Literatur“, wie Denis Scheck dazu festhielt. Die Taschenbuchlizenzausgabe erscheint übrigens voraussichtlich im kommenden Frühjahr bei Diogenes, worauf ich mich schon sehr freue.
Haben Sie vielen Dank für das nette Gespräch und Ihre Leseempfehlungen, lieber Herr Richter!