Unser Buch des Monats Oktober: Jovana Reisinger »Spitzenreiterinnen«
Voll lit – wir küren unser Buch des Monats Oktober! Jetzt schlägt die Stunde der Frauen: Jovana Reisinger entzündet mit ihren »Spitzenreiterinnen« ein fulminantes feministisches Feuerwerk. Ein bitterböser Ensembleroman, dessen Lektüre großen Spaß macht!
Erstellt am 20.10.2021
Rezension von Marie-Theres Stickel
Laura, Petra, Barbara, Lisa, Tina, Emma, Jolie, Verena und Brigitte – das sind die neun Protagonistinnen im bitterbösen und schreiend komischen Ensembleroman »Spitzenreiterinnen« von Jovana Reisinger. Aufmerksamen Kioskgänger:innen wird die Namens-Pointe nicht entgangen sein: Reisinger benennt all ihre Frauenfiguren nach deutschen Frauenzeitschriften und schreibt sie damit in die gängigen Rollenbilder, Klischees und Stereotype ein, die uns gemeinhin an den Kiosken dieses Landes als ‚Frau‘ verkauft werden.
Die Lesenden begegnen den »Spitzenreiterinnen« in kurzen Kapiteln, alle datiert auf insgesamt fünf verschiedene Tage; beispielsweise auf den 14.2. (Valentinstag) oder den 8.3. (Weltfrauentag). Thematisch kreisen die Episoden um Heirat und Trennung, neue (queere) Liebe, unerfüllte Kinderwünsche, ungewollte Schwangerschaften, Tod und Erbe, sexualisierte und häusliche Gewalt, Machtmissbrauch, mentale Gesundheit. Und zwischendrin: Sonderkapitel, sprachlich und formal inspiriert von Frauenzeitschriften – „Solidarität unter Frauen“, „weibliche Lust“, „Karrierefrauen“, „Haare“. Geografisch platziert Jovana Reisinger ihre Protagonistinnen in einem wohlsituierten, bayerisch-österreichischen Milieu im Raum München. Da wäre zum Beispiel Laura, die strahlend im Café sitzt und ihrer Hochzeit entgegenfiebert. Ihre beste Freundin Verena stürzt ein Glas Champagner nach dem anderen, aktualisiert ihr Tinder-Profil – und erbt eine Luxusvilla. Lisa, die keine Kinder bekommen kann, eskaliert in einem Spezialitätenrestaurant für Austern. Und Tina, Mutter in einer niederbayrischen Familie, hat Angst.
Alle Frauen verbindet ihr Spiel des sogenannten Frauen-Games, in dem frau bestimmte Etappen gewinnen muss: einen guten Job, einen erfolgreichen Macker, eine gute Ehe, prächtige Kinder, ein Vermögen. Die Männer reduziert Reisinger im Roman übrigens auf ihre Anfangsbuchstaben, sie prägen das Buch schon allein durch ihre Taten zu Genüge. Und außerdem könne man sie ja nicht „Beef“, „GQ“ und „11 Freunde“ nennen, so Reisinger in einem Interview. Auch außergewöhnlich: Im ganzen Roman gibt es keine charakterisierenden Beschreibungen der Frauen. Vielleicht hat man als Leser:in die Kioskauslage mit den schillernd-bunten Frauenzeitschriften vor Augen und stellt sich die Protagonistinnen ähnlich den „Magazincover-Frauen“ vor? Oder reflektiert man/frau beim Lesen eventuell bereits diesen literarischen Kunstgriff und hat dann eben doch ganz andere Frauenfiguren im Kopf? …
In jedem Fall spielt der Roman auf wahnsinnig vielfältige Weise mit heutigen Rollenklischees und Zwängen, denen Frauen in patriarchalen, neoliberalen Leistungsgesellschaften unterliegen. Und dabei ist er äußerst unterhaltsam! Recht nüchtern und reduziert erzählt Reisinger nahezu filmisch: Ihr Erzählton lebt von kurzen, schnellen und starken Dialogen, die den Roman in ein rasantes, vorwärts drängendes Präsens bringen. Zudem besticht »Spitzenreiterinnen« mit viel Humor, gepaart mit grandios zynischen und markanten Überstilisierungen. Jovana Reisinger übertreibt, bis es knallt. Oft genug bleibt einem beim Lesen das Lachen im Halse stecken. Doch der bissige und böse Humor ist den Protagonistinnen gegenüber nie verurteilend. Durch die Überzeichnungen gelingt es Jovana Reisinger vielmehr, heutige Geschlechterungerechtigkeiten äußerst überzeugend und mit süffisanter Leichtigkeit zu dekonstruieren. »Spitzenreiterinnen« wird so zu einem fulminanten, feministischen Lese-Highlight, ein literarisches Feuerwerk – denn jetzt schlägt die Stunde der Frauen.
Jovana Reisinger »Spitzenreiterinnen«, Roman, Verbrecher Verlag, Februar 2021, 264 Seiten, 22,- €