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Grußwort zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2024

20. März 2024, Gewandhaus Leipzig

Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels

- Es gilt das gesprochene Wort -

Als vor drei Jahren die Leipziger Buchmesse zum zweiten Mal wegen Corona ausfallen musste, bot der Superintendent der Leipziger Nikolaikirche seine Kirche an für einen Festakt und die Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung. Es war eine kleine Veranstaltung unter den Bedingungen des Lockdowns, aber sie führte mich erstmals an den Ort, den ich aus der Berichterstattung von vor 35 Jahren zu kennen glaubte. 

Ich sah das handgemalte Plakat „Schwerter zu Pflugscharen“; und in mir wurden mit aller Wucht die Friedensgebete lebendig und die Montagsdemonstrationen, die schließlich – zusammen mit anderen politischen Komponenten – zur friedlichen Revolution von 1989 führten. 

Im Anschluss an die Veranstaltung zeigte mir der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Burkhard Jung, im oberen Stockwerk der Nikolaischule eine Fensternische und sagte nur: „Und hier stand die Stasi mit ihren Teleobjektiven.“ 
Nun stand ich in dieser Fensternische, sah auf den Nikolaihof hinunter und stellte mir den Platz vor: von Montag zu Montag dichter gedrängt voller Menschen ... Menschen, die wussten, dass in den Seitenstraße Polizeiwagen parkten, bereit, die willkürlich von Stasi-Leuten in Zivil Verhafteten abzutransportieren. Und ich fragte mich, ob ich den Mut gehabt hätte und die Kraft, Teil dieser friedlichen Revolution zu sein. 

Heute, dreieinhalb Jahrzehnte später, gehen wieder Zehn- und Hundertausende in unserem Land auf die Straßen. Die größten Demonstrationen seit 1989 in Leipzig. Warum? Weil wir wieder an einem Scheideweg stehen und die Demokratie, für die die Mutigen 1989 aufstanden, ernsthaft in Gefahr ist. 

Demokratiezersetzende Kräfte finden Zulauf, Antisemitismus, Rassismus, Islamfeindlichkeit und Homophobie wachsen in erschreckendem Maße. Das Grundgesetz, die freiheitlich-demokratische Grundordnung, die vor 75 Jahren den Neubeginn markierte nach dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte – und die zur Blaupause demokratischer Verfassungen in aller Welt wurde – ist massiven Angriffen in Wort und Tat ausgesetzt.

Dass heute wieder so viele Menschen für die Demokratie und gegen Rechtsextremismus auf die Straße gehen, ist ein gutes Zeichen. Vielleicht hat das Recherchenetzwerk Correctiv uns aus dem Dämmerschlaf der Demokratie-Selbstverständlichkeit geweckt.

In den nächsten Monaten wird sich entscheiden, wie es mit demokratischen Werten in Europa und in Deutschland weitergeht. In den Wahlkabinen der Europawahl am 9. Juni und bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im September.  In diesem Jahr dürfen bei der Europawahl junge Menschen schon ab 16 Jahren ihre Stimme abgeben. Über einer Million jungen Erwachsenen öffnet sich damit allein in Deutschland eine Tür zu mehr demokratischer Beteiligung. Oder um es klarer zu sagen: Noch nie hatten so viele Wahlbeteiligte die Chance, über die Zukunft zu entscheiden. 

Blicken wir über den europäischen Tellerrand hinaus, ist in diesem Jahr fast die Hälfte der Weltbevölkerung zum Wählen aufgerufen – aber nur ein geringer Teil in freien und fairen demokratischen Wahlen. Und ausgerechnet in diesem Jahr wächst hierzulande die Demokratiemüdigkeit. 

Hat sich eine große Mehrheit, haben wir uns zu sehr an die Demokratie gewöhnt? Ist sie so selbstverständlich geworden, dass wir diejenigen vergessen haben, die dafür ihre Leben riskierten: 1848 und 1989? Riskieren wir, aus unserer achtsamen Ichbezogenheit und unseren Social-Media-Bubbles erst dann aufzuwachen, wenn es zu spät ist?

„Jetzt haben wir endlich die Chance, herauszufinden, was wir anstelle unserer Großeltern getan hätten“, las ich auf einer übervollen Demonstrationsveranstaltung in Frankfurt auf Transparenten. Und „Nie wieder ist jetzt!“

Jetzt ist der Moment, in dem wir laut und deutlich für die Demokratie einstehen sollten. 

Jetzt ist der Moment, in dem wir miteinander und mit Andersdenkenden über unsere Werte und übers Wählengehen sprechen sollten.

Jetzt ist der Moment, für die Demokratie einzustehen. 

Was leistet in diesem Kontext die Buchbranche und eine Buchmesse, wie wir sie heute eröffnen? Es sind Bücher und Geschichten, die Werte vermitteln und Diskurse anregen, die Empathie fördern und dialektisches Denken. Es sind gut lektorierte Bücher, die in Zeiten von Deep Fakes und KI-Orientierung geben und Fakten liefern anstelle von Aufgeregtheit, Angst und Manipulation. Und es ist die Gemeinschaft mit Anderen, die Mut macht, für Werte einzustehen. 

Vor einigen Augenblicken haben wir hier zusammen Plakate hochgehalten: „Demokratie wählen. Jetzt.“ Ich danke Ihnen für dieses gemeinsame und ausdrucksstarke Bekenntnis zur Demokratie!
Nutzen wir die nächsten Tage, um Denkanstöße und den Diskurs zu suchen. Um uns mit den Gedanken von Omri Boehm auseinanderzusetzen, den wir heute ehren. Um zum Beispiel im Forum Offene Gesellschaft in Halle 2 der Buchmesse die drängenden Themen der Zeit zu verhandeln.

Lassen Sie uns in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten weiter Zeichen der Kultur- und Buchbranche für Demokratie in die Welt schicken! Lassen Sie uns auch über diese Messe hinaus für Vielfalt und Toleranz eintreten, für Menschenwürde und ein Miteinander in wechselseitigem Respekt, für Meinungsfreiheit und Frieden. Im Gedenken auch an Alexej Nawalny und alle Menschen, die in repressiven Regierungssystemen oder in den Kriegen in der Ukraine und dem Nahen Osten, aber auch in anderen Teilen der Welt ihre Leben lassen mussten. 

Ich freue mich auf die Leipziger Buchmesse 2024.

Ich freue mich auf ein Miteinander in Buch- und Demokratiebegeisterung!

Vielen Dank!