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Blogbeitrag Nachwuchsblog

Begegnungen mit Klassikern wagen

Klassiker lesen? Was ist das überhaupt, ein Klassiker?- Unsere Buchhändlerin Saskia hat für euch spannende Fun Facts und Infos rund um das Thema gesammelt, die sie uns in drei Teilen vorstellen wird. Also, viel Spaß beim Lesen und stay tuned.
Erstellt am 15.06.2023


Ein Beitrag von Saskia Jürgens

 

Das Lesen von klassischen Texten als Schullektüre wird häufig als Zwangskonfrontation mit den verstaubten Schinken wahrgenommen. Ohne sich irgendwie angesprochen zu fühlen oder eine Verbindung mit dem eigenen Leben zu erkennen, werden die Stunden abgesessen und das Nötigste für Klassenarbeiten auswendig rezitiert. Zurück bleibt dann nicht ein Fundus an Leseerfahrung, an welchen zukünftig angeknüpft werden kann, sondern das Bedürfnis mit dem alten Zeug nichts mehr zu tun haben zu wollen. So blicken einige meiner Kund*innen im Buchhandel auf ihre Schulzeit zurück. Wie schade!

Auch nach vielleicht unzähligen langweiligen und sinnlos erscheinenden Unterrichtsstunden ist ein mutiger Schritt in Richtung Klassiker-Regal der Anfang von einer großartigen, lohnenswerten Erfahrung. Möglicherweise hattest du aber auch Glück und es gab in deiner Schullaufbahn diese eine Lehrperson, die dich mit ihrer/seiner Begeisterung mitreißen und so einen Kontext schaffen konnte zwischen deiner Lebenswelt und der Welt, in welcher das Gelesene verfasst wurde. Oder es gab sogar den einen Text, der dich so richtig gepackt hat.


Für alle anderen möchte ich ein paar gute Gründe zusammentragen, sich doch noch auf den einen oder anderen Klassiker einzulassen.


Vorab sollten wir klären, was gemeint ist, wenn ich von Klassikern spreche, denn es gibt verschiedene Definitionen. Eng gefasst handelt es sich bei Klassikern um Texte der römischen und griechischen Antike, sowie Werke, die „während der Blütezeit der deutschen Literatur“ entstanden sind, zum Beispiel von Goethe, Schiller oder Hölderlin. Noch enger können wir das Paket schnüren, indem wir uns auf Texte beschränken, die während der Weimarer Klassik (1786 – 1832) verfasst wurden. Ich halte es für sinnvoll, diese Enge zu lösen und mit dieser viel lockereren Definition zu arbeiten: Literarische Werke, die ihre Zeit überdauern und auf Grund ihrer innovativen Gedanken wegweisend sind. Texte, die eine hohe Qualität in ihrer Sprache und ihrem Inhalt aufweisen und dadurch kulturprägend sind. Meist erlangten solche Schriftstücke einen hohen Bekanntheitsgrad. Wirft man einen intensiveren Blick auf Neuerscheinungen, wird man feststellen, dass unter ihnen viele posthume Werke weilen von nahezu unbekannten Autor*innen vergangener Zeiten; Zeitgenoss*innen und Weggefährt*innen uns bekannter Namen. Texte, die bisher unentdeckt blieben; Urheber*innen, die viel zu früh starben, um ein umfangreiches Lebenswerk zu schaffen (…). Erlaubt mir deshalb, diesen Rahmen um historische Werke zu erweitern, die nie eine derartige Berühmtheit erlangt haben und dennoch sehr wertvoll sind.

Tatsächlich begegnete mir in der 10. Klasse DIE eine Schullektüre, die ich in einem Rutsch durchgelesen hatte und mich nicht mehr losließ. Dabei handelt es sich um Sophokles‘ Antigone, die sich den königlichen Befehlen widersetzt und ihrem Gewissen darin folgt, ihren Bruder Polyneikes nach Tradition zu bestatten, obwohl dieser im Kampf seinen Bruder tötete. Bis vor kurzem grübelte ich darüber, warum es ausgerechnet dieser Text war, der mich derartig ansprach. Heute vermute ich, dass gerade in diesem Alter der Loslöseprozess von seinem Elternhaus und damit die Bestrebung, sich selbst zu definieren, in vollem Gang ist. Vielleicht eher unterbewusst ist man auf der Suche nach einem selbst gewählten moralischen Kompass und somit ebenso auf der Suche nach Antworten auf große Fragen des Lebens. Dass Antigone dieser Anweisung trotzt und ihrem Empfinden für Gerechtigkeit und Würde erhobenen Hauptes folgt (man beachte die dafür aufzubringende Courage), beeindruckt mich noch heute sehr – so sehr, dass ich es für nachahmenswert halte. Die Aussage „Nur Befehle ausgeführt zu haben“, diente nicht nur beim Aufarbeiten der NS-Zeit als Rechtfertigung für unzählige Gräueltaten. Auch gegenwärtig werden täglich Befehle ausgeführt und dafür Empathie und Mitmenschlichkeit hinten angestellt. Doch sollten wir nicht alle Verantwortung für unser Handeln tragen, unser Gewissen regelmäßig prüfen und Vorgänge hinterfragen?

Ich sehe in Klassikern das Potenzial, auf die eigene Persönlichkeitsentwicklung einzuwirken – zum Teil auch ohne gezielt eine definierte Problemstellung zu erörtern.
Sie konfrontieren uns oft auf dramatische und emotionale Weise mit Ereignissen und Konflikten, die uns gedanklich noch lange beschäftigen – oder in Erinnerung bleiben und zum gegebenen Zeitpunkt präsent werden:

„Michael Kohlhaas“, geschrieben um 1810 von Heinrich von Kleist, mit seinen ausufernden Bandwurmsätzen, die sich absatz- und kapitellos aneinanderreihen, wurde für mich zum Albtraum meiner Oberstufenzeit. Ein Gegenbeispiel zu meiner Erfahrung mit Antigone also. Der Pferdehändler Michael Kohlhaas wird unrechtmäßig durch die Entscheidung eines Junkers zweier Pferde beraubt, die dann von diesem zugrunde gerichtet werden. Kleist demonstriert in diesem Werk eine mächtige, aber vor allem willkürliche Obrigkeit, die ihre Privilegien ausspielt.
Da ihm der Rechtsweg verwehrt wird, begibt sich Kohlhaas auf einen Rachefeldzug gegen den Junker, ganz nach der Devise „Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!“. Die Auseinandersetzungen steigern sich ins Unermessliche und auch Kohlhaas verliert alles, was seine Existenz ausmacht.
Einige Jahre später fällt mir dieser Text wieder ein – in einer bei weitem weniger dramatischen Situation, die sich für mich jedoch nach einer großen Ungerechtigkeit anfühlte, deren Auflösung unwahrscheinlich ist. Das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, ist ein brennendes, welches mit Hilflosigkeit, Wut und Zorn einhergeht und sich zu gern Luft machen würde.
„Michael Kohlhaas“ ist ein Text, der in Zeiten wie diesen besonders nachdenklich macht: Russlands krimineller Angriff auf die Ukraine; das unterdrückende iranische Regime, gegen welches Frauen, aber auch Männer richtigerweise aufbegehren; fehlgeleitete Verteilung von Ressourcen zu Gunsten Weniger – die Aufzählung ließe sich endlos fortsetzen.
Ich denke nicht, dass Kleists Botschaft eine Aufforderung ist, sich unterzuordnen und klein beizugeben; und dennoch ist sie eine Warnung vor dem unkontrollierten Herausbrechen zerstörerischer Rachegelüste, die das Ziel der Gerechtigkeit verfehlen – eine Aufforderung, differenziert, bedacht und sachlich zu handeln. Was das im Einzelnen bedeutet, darüber muss nachgedacht und diskutiert werden.
Ebenso über den Inhalt gelesener Texte, denn wie gewinnbringend ist es, unterschiedliche Aspekte zusammenzutragen. Bücher liefern uns keine Handlungsanweisungen, sondern literarische Vorbilder und Gedankenexperimente.  Sie zeigen uns vielfältige Denk- und Handlungswege, sie verleihen uns in ihrer Fülle ein Repertoire an Möglichkeiten. An dieser Stelle ein Zitat von Jean-Jaques Rousseau über das Lesen: „Beginnen wir damit, einen Vorrat an Ideen anzulegen, die wahr oder falsch sein können, wenn sie nur bestimmt und klar sind – bis mein Kopf hinreichend damit ausgestattet ist, um sie zu vergleichen und unter ihnen wählen zu können.“
Denn es fällt auf, egal wie alt diese Texte sind: Diesen Menschen, mit ihren Emotionen, Sorgen und ihrem Alltag, widerfährt Ähnliches wie uns – in abgewandelter Form. Ihre Gedanken kreisen ebenso um Themen wie Selbstbestimmung, Gerechtigkeit, Mut, Freundschaft und Liebe, Krieg und Frieden… sie sind zeitlos!

Für den zweiten Teil werde ich ein paar Leseerfahrungen der anderen Autor*innen des Nachwuchsblogs zusammentragen. Ihr dürft also gespannt sein auf die Fortsetzung.
 


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Ich sage dann meistens so: Im Sommer geht's. Jetzt gerade ist aber nicht Sommer.